Das
Wiegenlied
Mein Blick ist starr nach vorne
gerichtet. Der Regen prasselt auf das Autodach. Ich sehe aus dem
Fenster. Dicke Regentropfen vertrüben die Sicht und rinnen das
Fensterglas hinab. Wie Tränen, denke ich und beobachte sie dabei.
Ich hebe eine Hand und drücke sie gegen die Scheibe. Sie ist
eiskalt. „Hör auf an der Scheibe herum zu schmieren. Du machst sie
ganz dreckig.“ schimpft meine Mutter von vorne. Ich beachte sie
nicht. Weitere Regentropfen fließen über die Scheibe. Ich ziehe die
Hand wieder zurück um sie besser dabei beobachten zu können. Mama
konzentriert sich wieder völlig auf die Straße. Ich lege den Kopf
schief und beobachte nun sie eine Weile. Wieso ist sie heute so
schweigsam? Sie sagt nur etwas wenn ich etwas falsch mache. Ist sie
wütend auf mich? Ich runzle die Stirn und denke angestrengt darüber
nach was ich denn falsch gemacht haben könnte, doch mir fällt beim
besten Willen nichts ein. Ganz in Gegenteil, ich war in den letzten
Tagen ungeheuer brav. Ich habe alles getan was sie von mir verlangte.
Wenn sie sagte ich solle in meinem Zimmer spielen gehen, habe ich es
stets getan. Wenn sie behauptete sie würde dringend meine Hilfe
brauchen, war ich immer da. Wenn sie mir erklärte wir hätten wieder
mal einen Arzt Termin habe ich es mit einem einfachen nicken
hingenommen. Völlig klaglos. Darauf bin ich ziemlich stolz. Denn bin
ich doch erst fünf. Ich weiß nämlich das die anderen in meinem
Kindergarten schreckliches Gebrüll um Arztbesuche machen. Ich nicht.
Katy sagte mal zu mir dass sie eine Stunde lang gebrüllt habe als
sie zum Arzt gemusst hatte.
Der Regen nahm zu. Ich sah wieder aus
meinem Fenster. „Darf ich das Fenster öffnen Mama?“ fragte ich.
„Um Gottes Willen nein! Du erkältest dich oder holst dir sonst was
weg. Außerdem regnet es draußen so dolle.“ polterte meine Mutter
aufgebracht. Ich schweige. Allmählich färbt sich der Himmel dunkel.
Bekommt eine rötliche Farbe. „Wieso ist der Himmel rot? Katy sagt
immer das wird sie alles wissen wenn sie erst einmal zur Schule geht.
Dort wird sie alles lernen, Mama. Werde ich auch zur Schule gehen
Mama? Mit Katy.“ frage ich meine Mutter. Sie antwortet nicht.
Schweigt eisern. Ich werfe ihr einen unsicheren Blick zu. „Wieso
antwortest du mir nicht Mama? Wieso bist du mir so böse? Habe ich
etwas falsch gemacht?“ meine Stimme klingt weinerlich. Doch ich bin
fest entschlossen nicht zu weinen. Ich schlucke den Kloß im Hals
herunter und dränge die Tränen zurück. Dann sehe ich wieder nach
vorn. Meine Mutter schweigt noch immer. Dann sehe ich wie ihre
Schultern zucken. Schnell und hastig. Sie weint. „Mama wieso weinst
du?“ frage ich erschrocken. Was hatte ich getan? Ich hatte meine
Mama zum weinen gebracht. Was war ich nur für eine schreckliche
Tochter. „Es tut mir Leid Mama.“ flüstere ich. „,Es tut mir
schrecklich Leid.“ Auch ich möchte weinen. In tränen ausbrechen.
Doch ich habe keine Tränen mehr übrig. Ich habe schon all meine
Tränen im Krankenhaus bei diesen schrecklichen Behandlungen vergossen. „Mama...“ ich breche ab. Will sie so gern trösten.
Ich fange an leise zu singen. Singe ein Lied das Mama mir immer vorm Zubettgehen vorgesungen hat. Sie nannte es immer mein Wiegenlied. Das
bringt sie noch mehr zum weinen. Sie bremst abrupt und steuert das
Auto an den Straßenrand. Erschrocken verstumme ich. „Das ist nicht
fair.“ schluchzt sie. Ich sehe ihre Schultern beben. Ihr Gesicht
mit beiden Händen bedeckt, doch das sehe ich kaum. Ich sehe nur ihre
bebenden Schultern und ihre weichen rotblonden Haare. Haare wie ich
sie auch mal hatte. Genau die selben. Jetzt sind sie weg. Jetzt habe
ich gar keine Haare mehr. Ich beuge mich vor. Will sie umarmen. Ihr eine Hand auf die
Schulter legen. Sie trösten. Doch der Sicherheitsgurt hält mich
zurück. „Das ist einfach nicht fair.,“ schluchzt sie immer
wieder vor sich hin. „,Nicht mein Baby. Nicht mein Kind.“
Ich muss feststellen das doch noch Tränen übrig sind. Jetzt
kann ich meine Tränen nicht mehr zurück halten. Ich bin doch hier,
will ich sagen. Doch ich über meine Lippen kommt nur ein leises
wimmern. Mama reißt ruckartig den Kopf hoch und sieht mich an. „Tut
dir was weh? Hast du schmerzen?“ fragt sie und noch bevor ich den
Kopf schütteln kann springt sie aus dem Auto und öffnet meine Tür.
Sie öffnet den Gurt. „Mir tut nichts weh Mama.“ weine ich. Erst
jetzt begreift sie das ich weine weil sie es auch tut. Sie hebt mich
aus dem Wagen und zieht mich in ihre Arme. „Es tut mir leid.“
flüstert sie in mein Ohr. So stehen wir da. Mitten im strömenden
Regen. Völlig durchnässt. Mamas Haare kleben ihr an der Stirn. „Das
darf nicht passieren. Bitte Gott...“ schluchzt sie. „Es wird
nichts passieren Mama. Dir passiert nichts. Der Arzt hat gesagt das
ich ein Engel sein werde. Aber ich will nicht irgendein Engel sein
Mama. Ich will dein Engel sein. Ich werde auf die aufpassen. Ich
werde dich nie alleine lassen.“ verspreche ich. Mama sagt nichts.
Wiegt mich nur in ihren armen.
Nach einer Weile hört sie auf
zu weinen. Sie wischt sich über die Augen und ich sehe das ihre
Schminke ganz verwischt ist. Ich weine noch immer. Schnell nimmt Mama
einen Rucksack aus dem Kofferraum und zieht mir trockene Klamotten
an, nachdem sie mich wieder ins Auto gesetzt hat. Dann setzt sie sich
neben mich auf den Rand des Autos. Der Regen erreicht sie noch immer.
Doch das ist jetzt egal. Sie ist ja schon nass. Erst ganz leise und
dann immer lauter fängt Mama an mein Wiegenlied zu singen. Kurz
darauf habe ich mich schon wieder so weit beruhigt das ich mitsingen
kann. Als es geendet hat sehe ich Mama an. „Komm jetzt ins Auto du
holst dir noch den Tod oder sonst was.“ äffe ich sie nach. Sie
lächelt matt. Gibt mir einen Kuss auf die Stirn und steigt wieder
ins Auto. Wir setzten unseren Weg fort.
Während der gesamten fahrt ins
Krankenhaus singt Mama ununterbrochen mein Wiegenlied. Ab und zu
glaube ich sie leise schluchzen zuhören. Aber das bilde ich mir
vielleicht nur ein.
Der Regen prasselt auf das
Autodach. Ich sehe aus dem Fenster.
Ellen
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